Masse und Macht sind Schlüsselbegriffe zum Verständnis unseres Zeitalters. Schon der junge Canetti war fasziniert und beunruhigt von den Phänomenen, die sich mit diesen Begriffen benennen lassen. Das Leben der Menschen folgt eigenartigen Gesetzen. Bereits als Kinder gehorchen wir den Befehlen unserer Erzieher. Früh sind wir angehalten, "freudig" unsere Pflicht zu tun. Aber auch die Gesellschaft im ganzen ist dem zwanghaften Mechanismus von Befehl und Gehorsam ausgesetzt. Um miteinander auszukommen, folgt die Masse bestehenden Gesetzen, doch kennt die Geschichte auch genügend Beispiele, wo die Massen blind dem Diktat eines Tyrannen oder einer Weltanschauung folgen. Aber Vorsicht! Massen entwickeln gelegentlich eine Eigendynamik - sie können aufhetzen und Minderheiten verfolgen, Könige oder Regierungen stürzen und selber die Macht für sich beanspruchen. Aus geknechteten Einzelnen bildet sich plötzlich eine revolutionäre Masse: Sklaven erheben sich gegen ihre Kolonialherren, Farbige gegen Weiße, Arbeiter gegen Unternehmer. In seinem philosophischen Hauptwerk beschäftigt sich Canetti mit diesen Problemen. Kühn im Denken und von einer einzigartigen stilistischen Brillanz zieht der Autor uns von der ersten Seite an in seinem Bann. Anthropologische, soziologische und psychologische Aspekte durchdringen die essayistische Untersuchung gleichermaßen, und der Leser spürt, daß hier seine Sache verhandelt, über sein Schicksal nachgedacht wird.
Canetti bietet eine systematische Darstellung der Masse als Phänomen mitsamt
ihrer verschiedenen Ausprägungen und Funktionsweisen. Dabei analysiert
er - scheinbar wertfrei - eine Reihe von Beispielen des Massenverhaltens
aus primitiven und modernen Gesellschaften. Das Faszinierende und gleichzeitig
Beunruhigende an der Vorgehensweise des Autors ist, dass er die Masse nicht
in erster Linie als Instrument der politischen Macht oder Abart des
menschlichen Verhaltens darstellt, sondern als eigene Existenzform, die
irgendwo zwischen Vernunftmensch und Gesellschaft lauert und potenziell
überall (beim Sport, im Theater, im Gottesdienst oder im Krieg) ihr auf
Handlungstrieben basierendes Unwesen treibt. Dadurch zeichnet sich Masse
und Macht als hervorragende soziologische Studie, aber auch politisches
Werk aus.