Unser Verständnis von Leben, Psyche, Natur und Wissenschaft kann weder als umfassend noch als vollendet betrachtet werden. Viele Monumente der Vergangenheit sind nur bruchstückweise erhalten. Unzählige Werke, die zu den bedeutendsten Zeugnissen des künstlerischen und geistigen Schaffens gehören, sind Fragmente. Auch sind Tradition und Fortschritt ohne (Unter)brüche kaum denkbar. Dieser Thematik des Unvollständigen und Gebrochenen sind die Aufsätze in diesem Sammelband gewidmet.
Es geht den Vertreterinnen und Vertretern verschiedenster Fachrichtungen um eine ganze Reihe von Fragen: Wo, wie, in welcher Funktion und Bedeutung und auch in welcher Häufigkeit finden wir in unserer Welt, in unserem Leben und in unseren Wissenschaften Brüche, Torsi und Unvollendetes? Wie wesentlich sind diese Erscheinungen und welchen Stellenwert haben sie in unserem Dasein? Wie steht es mit der Richtigkeit der Vorstellung, dass das Unvollendete die Ausnahme bildet, das Ganze hingegen, das Fertige und Vollkommene den Normalfall darstellt?
Die Herausgeber haben bewusst darauf verzichtet, die Begriffe des Bruches, des Torso und des Unvollendeten definitorisch einzuschränken. Die Autorinnen und Autoren waren frei, sie ganz im Sinne ihrer jeweiligen Wissenschaft zu fassen und sie mit ihren eigenen Mitteln zu bearbeiten. So kommen denn auch sehr viele und recht unterschiedliche Aspekte von dem zur Sprache, was brüchig oder unvollendet bzw. ganz und fertig ist.
Vom Unvollendeten
lx. Dass ein Werk immer auch «vollendet», zu Ende geführt sei, ist nicht die Regel. Es gibt Meisterwerke der menschlichen Kultur, die gerade durch den Status ihres Nicht-vollendet-Seins berücken; Antonio Gaudís sagrada familia in Barcelona etwa, oder, vielleicht noch mehr und exemplarischer: Schuberts achte Sinfonie, schlichtweg die «Unvollendete» genannt. Diesem Unvollendeten - auch verstanden als Bruchstück und als Torso - haben die Privatdozenten der Universität Zürich im letzten Wintersemester eine Vortragsreihe gewidmet. In der nun vorliegenden Publikation zeigt sich, wie fruchtbar das Nachdenken über das fragmentarische Verbliebene ist, mehr noch: dass das Bruchstück gleichsam jene heimliche Grösse zu sein scheint, die sich durch alle Disziplinen zieht. Das setzt schon bei den ersten Anfängen an. Der Archäologe Philippe Della Costa zeigt, dass unsere Kenntnis von Ur- und Frühgeschichte vornehmlich aus der Interpretation von auf uns gekommenen Bruchstücken, Ruinen, Scherben, Torsi, stammt. Unvollständig aber sind auch viele der heutigen Formen menschlichen Seins, und hier schlägt die Stunde der Philosophen: Wissen bleibt doch immer fragmentarisch (Erwin Sonderegger); menschliches «Glück», wenn es uns denn begegnet, wird kaum je «bruchlos» sein (Jürg Berthold).
Brüche, Torsi, Unvollendetes. Über das Fragmentarische in Leben, Kunst und Wissenschaft. Herausgegeben von Kurt Schärer u. a. Chronos-Verlag, Zürich 2002. 259 S., Fr. 38.-.
Neue Zürcher Zeitung FEUILLETON Samstag, 23.11.2002 Nr.273 68